„Usain Bolt-Ersatz“ – Krisenmanagement der DB

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Mein erster Dank im Neuen Jahr geht an die Deutsche Bahn! Sie liefert mir auch 2016 zuverlässig neuen Stoff für den Blog. Es gibt kaum einen besseren Ort, um gesellschaftskritische Studien zu betreiben als die Bahn. Ich würde fast so weit gehen, dass regelmäßiges Bahnfahren in den Studienplan für Soziologie- oder Psychologiestudenten aufgenommen werden sollte. Nirgendwo sonst hat man so viel Zeit, sich die Reaktionen durchschnittlicher Mitbürger in unvorhergesehenen Krisensituationen anzusehen wie in einem Zug. Ganz besonders, wenn es sich um einen im Fahrplan als „Sprinter“ ausgewiesenen Zug handelt, also gewissermaßen der Usain Bolt unter den ICE, und die Bahn offenbar das Dopingmittel vergessen hat. So geschehen auf der Strecke von Berlin nach Frankfurt a. M.  Mit wehenden Fahnen war ich aus dem Gerichtssaal gestürzt, um noch meinen Zug um 14.31 von Berlin Hauptbahnhof in die Frankfurter Bankenmetropole zu erreichen. Das hätte eigentlich auch geklappt, aber der ICE über Wolfsburg, Göttingen usw. konnte nicht starten: Wegen einer Streckensperrung bei Berlin-Spandau. Allen Reisenden wurde daher empfohlen, den „Sprinter“ um 15.03 nach Frankfurt a. M. zu nehmen, weil dieser die neue schnellere Strecke über Halle nutzt und daher von der Streckensperrung nicht betroffen sei. Eigentlich hätte einen schon die Aufforderung an „alle Reisende“ nachdenklich machen können. Mit meinem ComfortStatus für Vielfahrer bin ich in solchen Situationen allerdings immer recht relaxed; so auch jetzt. Tatsächlich konnte ich noch einen freien Sitzplatz im stark überfüllten Wagen der 1. Klasse ergattern und entschlummerte bald in dem entspannt-guten Gefühl, von Usain Bolt nach Hause getragen zu werden. Hektische, leicht schrille Frauenstimmen reißen mich aus meinen Träumen. Die Dame auf dem Sitzplatz mir gegenüber spricht im Sprintertempo in ihr Handy, der Zug, der eigentlich sprinten sollte, steht. Ganz langsam begreife ich die Situation. Usain Bolt ist offenbar die Luft ausgegangen, und zwar auf freier Strecke, ca. 1-2 km hinter Halle. Eine Durchsage des Zugführers lässt auf sich warten, während die Reisenden in hektische Betriebsamkeit ausbrechen. Obwohl, so ganz korrekt ist diese Umschreibung nicht. Tatsächlich brechen nämlich nicht alle Reisenden in Hektik aus, sondern überwiegend nur weibliche Fahrgäste. Da wurde hektisch vom Platz aus telefoniert, um Freunde oder Verwandte zu informieren, dass sich die Abholzeit verzögert. Nach einer halben Stunde Stillstand und der aufmunternden Durchsage des Zugführers, wonach der Triebwagen eine Störung habe und man für einen „Neustart“-Versuch erst einmal den Strom völlig abschalten müsse, entfaltete sich bei den weiblichen Mitreisenden das Organisationstalent. Während sich ein Mann nach dem anderen ein kühles Bier bestellte, begannen nahezu alle Damen wie wild zu telefonieren und Freunde zu bitten, im Netz nach alternativen Zugverbindungen zu suchen. Die Schaffner wurden befragt, wie weit man denn schon vom Bahnhof Halle entfernt und ob es vielleicht möglich sei, die Türen zu öffnen, damit man zurück laufen und einen anderen Zug nehmen könne? Nachdem klar war, dass diese Option ausschied, schmiedeten einige kreativen Frauen schnell einen neuen Plan. Nächster Halt sollte Erfurt sein, also wurden telefonisch Suchaufträge nach Alternativverbindungen Erfurt-Frankfurt a. M. an die Daheimgebliebenen abgesetzt. Dass gegenwärtig keinerlei Hoffnung bestand, der Zug werde sich überhaupt in absehbarer Zeit in Bewegung setzen, geschweige denn Erfurt erreichen, störte die organisationsfreudigen Mitfahrerinnen offenkundig nicht. Es dauerte ein wenig, bis ich realisierte, dass sich in die Telefonbetriebsamkeit nur äußerst vereinzelt einmal eine Männerstimme einreihte und wenn, dann allenfalls um in kurzen Sätzen die Verspätung durchzugeben. Keine lautstarken Telefonate mit Geschäftspartnern einschließlich öffentlich kundgetaner Aktiendeals oder Millionenabschlüsse. Stattdessen tippten die Anzugträger um mich herum mit völlig ungerührter Mine in ihre Handys oder schauten Videos auf dem Laptop – ergeben in das Unvermeidliche. Die dritte Durchsage des Zugführers, wonach die wiederholten Versuche den nötigen Reset der Elektronik leider noch nicht bewirkt hätten, man aber weiter Versuche unternehme, entlockte dem einen oder anderen ein amüsiertes Lächeln und die zweite Runde Bier wurde bestellt, denn Mann „wisse ja nun nicht, wie lange das Bier kühl bleibe“. Währenddessen hatte ich Gelegenheit, eine weitere sehr interessante Beobachtung über den Zusammenhang zwischen dem Handyklingelton und der dazugehörigen Handybesitzerin zu machen. Langsam gingen nämlich die Rückrufe der beauftragten Verwandten ein, die verschiedene alternative Zugverbindungen von Erfurt aus herausgesucht hatten. Diese Rückrufe brachten einen bunten Reigen verschiedenster Handymelodien hervor. Erstaunlich, was es da alles gibt, und wie viele Menschen offenbar bereit sind, sich irgendwelche Lieblingsmelodien aus Kinohits oder Fernsehserien oder was auch immer herunterzuladen. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass die meisten dieser Klingeltöne irgendwie genau zum Typ der Handybesitzerin zu passen scheinen. So wenig genau man das beschreiben kann: irgendwie hört man den Klingelton, schaut sich die Handybesitzerin an und denkt „das passt“. Vermutlich ist das kein frauen- oder männerspezifisches Phänomen, nur leider klingeln die Handys der mitreisenden Herren heute so gut wie gar nicht; folglich kann ich meine hobbypsychologischen Erkenntnisse keiner Überprüfung unterziehen. Inzwischen hat die Bahn das Dopingmittel für ihren Usain Bolt auch gefunden und unser „Sprinter“ eilt Richtung Erfurt. Dort stellt sich heraus, dass alle Suchbemühungen nach alternativen Verbindungen Erfurt-Frankfurt a. M. sinnlos waren, weil die Züge, die dafür in Betracht gekommen wären, wegen der Streckensperrung in der Nähe von Berlin gar nicht bis Erfurt durchgedrungen waren! Und folglich steigt auch von den organisationstalentierten Mitfahrerinnen keine aus. Vielmehr sprinten wir alle gemeinsam weiter gen Frankfurt a. M. – um eine Erfahrung und einen „vielseitigen“ Stresstest reicher.

Pia-Alexandra Kappus