Wenn die Krise Kreise zieht

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Wer von uns hat nicht schon einmal beobachtet, wie ein flach geworfener (flacher) Stein auf eine glatte Wasserfläche trifft. Richtig, er verbreitet zentrisch um jedes Auftreffen herum ringförmige Wellen, man könnte auch sagen: Er zieht Kreise.

Das Bild passt, finde ich, auch auf unsere momentane Situation. Der Corona-Virus ist in unser öffentliches und zugleich in jedes unserer privaten Leben geplumpst und zieht Kreise. Welche Inhalte dadurch Wellen schlagen und weitertragen, dafür sind im Wesentlichen wir als Gesellschaft und jeder einzelne von uns verantwortlich. Der erste Kreis, der sich beim Auftreffen auf die Wasseroberfläche bildet, ist stets der am stärksten ausgeprägte, der seine Energie weiterträgt und Wellen schlägt. Je größer der Stein, desto heftiger die erste Welle und desto mehr Kreise bilden sich in der Folge, wobei deren Intensität proportional zur Entfernung vom Zentrum abnimmt. Der Einschlag, den der Conora-Virus in unsere Leben gebracht hat, ist zu vergleichen mit einem riesigen Felsbrocken, der in einen See stürzt. Die von ihm ausgehende Energie ist durchaus dazu geeignet, unser Leben ins Wanken zu bringen. Messebauer, Hotels, Gastronomen, Künstler und viele andere Freiberufler und Selbständige geraten in der unmittelbaren Bugwelle des Einschlags teilweise unter Wasser. Sie werden darauf angewiesen sein, dass wir anderen, die es erst im zweiten oder dritten Kreis erwischt, bereit sind, ihnen einen Rettungsring zuzuwerfen, um sie vor dem Ertrinken zu bewahren. Konkret kann jeder von uns diese Ringe auswerfen. Z. B., indem wir jetzt bei unseren Lieblingslokalen Essen to bring bestellen, statt aus dem gehamsterten Mehl das erste Mal im Leben geschmacklosen Nudelteig zu bereiten oder zum Scheitern verurteilte Brotbackversuche zu unternehmen. Unser Friseur ist sicherlich gern bereit, uns jetzt einen Gutschein zu verkaufen, den wir in der Zeit nach Corona bei ihm einlösen können und die Klavierlehrerin , die unsere Kinder wegen der Ansteckungsgefahr nicht mehr zu Hause unterrichten soll, wird Dank Streaming-Technik auch online weiter verzweifelt versuchen können, aus einem pubertierenden 14-Jährigen einen zweiten Lang Lang zu machen. Das mag alles nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein sein, aber es sind Gesten des Zusammenhalts und es wird eigene Kreise ziehen, was man erfreulicherweise auch vielerorts sehen und hören kann. Es sind die kleinen zwischenmenschlichen Geschichten und kreativen Ideen für Nachbarschaftshilfen, die jetzt die morgendlichen Radiosendungen füllen, uns teilweise zu Tränen rühren und in uns die Hoffnung aufkeimen lassen, die Krise könne dauerhaft zur Korrektur unseres Werte-Fokus führen.

Ich glaube wirklich, dass dies eine unserer ganz großen Chancen dieser Krise ist. Ob wir es schaffen, diese Chance zu ergreifen, wird sehr davon abhängen, wie weit sich die Kreise, die der Corona-Einschlag gezogen hat, auf der Wasseroberfläche unseres Sees verbreiten. Werden wir sie noch sehen, wenn uns die Hektik des Alltags wieder in Beschlag nimmt. Wenn wir es eilig haben beim Abholen der Kinder aus der Kita und uns deswegen für berechtigt halten, der Oma mit dem Rollator den Gehweg zuzuparken. Werden wir uns da an Werte wie Rücksichtnahme und Solidarität erinnern und auch danach handeln? Werden wir bereit sein, etwas mehr Geld für regionale Produkte auszugeben oder greifen wir doch wieder zum Billigprodukt aus China und regen uns dann auf, wenn dringend benötigte Medikamente nicht verfügbar sind, weil in Indien gerade wieder eine (denkwürdige) Fabrik abgebrannt ist? Vermutlich wird es auch davon abhängen, wie lange uns der Schock dieser Krise noch in den Gliedern sitzt, wie lange wir also auf dem See noch die Kreise, als Ausläufer eines jeden Einschlags, sehen. Deswegen sind wir alle und auch die Medien aufgefordert, auch nach der Krise, die Augen und Ohren für die wunderbaren positiven zwischenmenschlichen Geschichten offen zu halten und den Blick zu bewahren für diejenigen, die unsere Hilfe und unseren Zuspruch auch in Nicht-Krisen-Zeiten benötigen. Lasst uns immer wieder, jeder von uns, einem anderen den Rettungsring zu werfen und im Ernstfall selbst ins Wasser springen, um Kreise zu ziehen. Anfangen sollten wir damit, unsere Wertschätzung gegenüber all denjenigen dauerhaft hoch zu halten, die unsere Regale im Supermarkt einräumen, die unermüdlich LKW fahren, um die Regale im Supermarkt zu füllen, die als Ärzte und Pfleger Leben retten, die Putzleute, die unsere Städte und Büros sauber halten, die Busfahrer, die Müllabfuhr etc. Alle, für die wir derzeit abends um 21.00 an unsere Fenster treten und klatschen. Lasst uns mindestens einmal im Monat, vielleicht jeweils am ersten eines Monats, auch nach der Krise als Dankeschön diesen Berufsgruppen zuklatschen. Ihr Wert als Menschen in unserer Gemeinschaft darf nicht über ihre Funktion in der Krise definiert werden. All diese Mitmenschen waren vor der Krise, ein jeder, bereits genauso wertvoll wie in der Krise und werden es auch nach der Krise bleiben. Jeder von ihnen springt jeden Tag für die Gemeinschaft in den See und zieht Kreise um sich. Die Aufgabe der Medien wird es sein, dieses Bewusstsein in der Öffentlichkeit wach zu halten. Unsere Aufgabe wird es sein, im tagtäglichen Miteinander diesen veränderten Werte-Fokus zu leben und wirklich jedem, unabhängig von seinem wirtschaftlichen Status in der Gesellschaft, denselben Respekt entgegen zu bringen. Wenn uns dies gelänge, hätte COVID-19 wirklich weite Kreise in unsere Leben gezogen und wir hätten aus der Krise mehr als nur eine Chance gemacht