Ich war noch niemals in … Paris – Emmely Grabowski und der Lottogewinn

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Die offenen Küchenregale hatten den Vorteil, dass alles schnell griffbereit war. Mit einem Blick konnte man sich einen Überblick verschaffen. Gab es noch genügend sauberes Geschirr? Waren Mehl, Zucker, Salz in ausreichender Menge vorhanden? Im Spülbecken ein kalter, graubrauner Teebeutel. Am Morgen eilig hingeworfen.

Auf dem Tischchen im Wohnzimmer kauerten drei Orangen im Obstkorb, als wollten sie sich gegenseitig vor der Dunkelheit schützen. Daneben, auf dem Spitzendeckchen zwei säuberliche Stapel. Der linke, an den äußersten Rand des Tischchens geschobene – ein Berg von aufgeschichteten Briefen. Billige, ungefütterte Umschläge mit ihrer Adresse in den unterschiedlichsten Handschriften. Auf einem, der obenauf lag, war gleich neben der leicht schief aufgeklebten Marke in schnörkeliger Schrift zu lesen: „Bitte, hilf!“ Die zwei Worte und ein flehentliches Ausrufezeichen thronten auf einem akkurat gezogenen Linealstrich. Grau war dieser Stapel, hellgrau, taubengrau, verschmutztes Weiß. Der rechte Stapel in Griffnähe hingegen farbenfroh: bunte Prospekte und ein Stadtplan waren säuberlich aufgeschichtet. Der Eiffelturm glitzerte bei Nacht und wunderschöne, junge Menschen schlenderten auf ein gusseisern umrahmtes, leuchtendes Schild zu, auf dem „Metro“ in geschwungenen Buchstaben zu lesen war.

Emmely Grabowski zog den Haustürschlüssel ab und trat in ihr kleines Reich ein. Sie legte drei weitere graue Briefumschläge auf den linken Stapel, widerwillig. Noch im Mantel knipste sie in der Küche das Licht an, holte mit schnellem Handgriff eine Vase aus dem Küchenregal, stellte den Tulpenstrauß ins Wasser und vertrieb die grauen Gedanken. Über den schmalen Flur trat sie mit der Vase in der rechten Hand ins Wohnzimmer und drückte fest mit dem linken Zeigefinger auf die Starttaste des CD-Players. Hmm, der Nagellack könnte auch mal wieder eine Auffrischung gebrauchen, dachte sie. Udo begann, mit seiner vertrauten Stimme den Raum zu füllen. Emmely lächelte und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Kälte schlug ihr durch den Mantel entgegen, als sie den Vorhang zur Seite schob, den Tulpenstrauß auf der Fensterbank abstellte und ihn auf den gegenüberliegenden grauen Häuserblock blicken ließ. Emmely ordnete den Vorhang sorgfältig, schloss dann die Schlafzimmertür, hing den Mantel an den Garderobenhaken und knipste das Licht zum Badezimmer an. Sie wusch sich lange die schmutzigen Hände unter dem warmen Wasser und rieb sich dann ihren schmerzenden Nacken, bevor sie in den mintgrünen Hausanzug aus Frottee in Größe 42 schlüpfte, der über dem Rand der kleinen Badewanne hing. ‚Frühjahrskollektion, Aldi`, schmunzelte sie, als sie in ihre alten beigen Hausschuhe aus Kunstfell glitt. “Ich war noch niemals in New York – ich war noch niemals auf Hawaii, ging nie durch San Franzisko in zerrissenen Jeans…“. Emmely Grabowski sang inzwischen mit Udo im perfekten Duett und wollte gerade das Licht im Badezimmer löschen, da schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Sie suchte nach dem Oberlicht in ihrem bahamabeigen Alibert und fand endlich einen staubigen Kippschalter. Ach, wie hell doch auf einmal der dreigeteilte Spiegel leuchtete! Dann das Licht im Flur, sie öffnete weit die Tür zum kalten Schlafzimmer und tippte auch dort auf den Schalter. Emmely sah nach Udo im Wohnzimmer und machte ihm auch dort überall hell. Zuletzt ging sie in die kleine Küche und knipste auch hier alle Lampen an, bevor sie die angebrochene Asti-Flasche aus dem Kühlschrank holte und sich den verzierten Glaskelch mit dem dicken Stil randvoll einschenkte. Ab sofort würde die Dunkelheit draußen bleiben! Sie nickte, nahm darauf einen kräftigen Schluck aus dem Sektkelch, ging hinüber ins Wohnzimmer und stellte Flasche und Glas griffbereit auf das Tischchen. „Ich war noch niemals richtig frei, einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehn…“ Emmely sang jetzt lauter mit und genehmigte sich ein zweites Glas. Wieder hielt sie einen Augenblick inne, ging dann hinüber ins Schlafzimmer, schob den Vorhang zur Seite und fasste die Vase fest mit beiden Händen. Sie trug die Tulpen wie eine kostbare Trophäe hinüber ins warme Wohnzimmer. Eng war es auf dem Tischlein. Emmely Grabowski dachte kurz nach, blickte auf den grauen Stapel, nahm ihn und trug ihn beherzt hinüber zur Küche. Jetzt hatten die Tulpen Platz! Unter ihrem festen Tritt sprang der silberne Deckel des Mülleimers auf und entließ einen leicht süßlichen Geruch in die Freiheit. „Wenn Du wichtige Dokumente beseitigen willst, dann wirf sie in den Hausmüll! Hausmüll wird immer verbrannt!“ hörte sie ihren Vater sagen, der schon lange tot war. Dann fiel ihr Blick auf den vertrockneten Teebeutel. Emmely griff ihn am langen Faden und ließ ihn mit Schwung auf dem Briefstapel im Müll landen. Das sollte genügen! „Was soll schon sein…“ sang Udo, als sich der silberne Deckel unter Emmelys Püschelhausschuhen schloss. Sie setzte sich ans Tischlein im Wohnzimmer, freute sich an den frischen Tulpen und zog ein Flugticket aus dem bunten Stapel. „Nonstop you. Mrs. Emmely Grabowski, Sitz 1 A, FRA – Paris CDG“ las sie stolz, als sie über das feste Papier strich. Sie konnte ihr Glück kaum fassen! Das nächste Glas war schon voll, da hob Mrs. Emmely Grabowski ihren blond gelockten Kopf und den Asti-Kelch, schaute mit festem Blick zum Schlafzimmer, das schon seit Jahren kein Mann mehr betreten hatte, und rief zur unberührten linken Betthälfte hinüber: „Prösterchen Harald, danke für alles!“

von  Ute Görner, Fachanwältin für Arbeitsrecht, ist seit 1991 als Rechtsanwältin in Frankfurt am Main tätig. 13 Jahre lang arbeitete sie in der internationalen Wirtschaftskanzlei Clifford Chance. Jetzt ist sie als selbständige Rechtsanwältin tätig und anwaltliche Dozentin der Rechtsanwaltskammer Frankfurt im Rahmen der Referendarausbildung. In ihrer Freizeit besucht sie alle Heim- und fast alle Auswärtsspiele des Zweitliga-Fußballvereins FSV Frankfurt. Sie hat außerdem ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckt und sich das erforderliche Handwerkszeug in Schreibwerkstätten der VHS Frankfurt angeeignet.