„Der Weg des Bogens“ von Paulo Coelho

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Mit Zeichnungen von Christoph Niemann; aus dem Brasiliansischen von Maralde Meyer-Minnemann;           Erste deutsche Buchausgabe 2017; Diogenes Verlag AG Zürich, ISBN 978 3 257 06948 8

Jede Seite diese Buches enthält eine Lebensweisheit, die jenseits der richtigen und vollkommenen Technik des japanischen Bogenschießens (Kyudo) und jenseits der jeweiligen Situation, in der der Leser lebt, Lebenskraft und Lebensmut stärken und bewahren kann, sofern der Leser bereit ist sich auf die Worte Coelhos einzulassen. Auf 147, textlich sehr übersichtlich gestalteten kleinen Seiten, von welchen einige mit wunderschönen Zeichnungen (von Christoph Niemann) gestaltet sind, erzählt Coelho die Geschichte des Bogenschützen Tsetsuya. Die Handlung selbst ist schnell erzählt und das Buch in nur wenigen Stunden ausgelesen. Die Botschaft dahinter hallt indessen noch lange nach.
Tsetsuya, der Protagonist des Buches, lebt als Schreiner in einem kleinen unscheinbaren Dorf. Dort kennt man ihn nur als „den Schreiner“. Niemandem in der Dorfgemeinschaft ist bekannt, dass es sich bei Tetsuya um den besten Bogenschützen des Landes handelt, einen Großmeister in der Kunst des Kyudo. Tsetsuya hatte sich schon vor Jahren in das kleine Dorf zurückgezogen und auch unter den Bogenschützen des Landes war nicht bekannt, wo er lebte. Eines Tages aber spürt ein jüngerer, sehr ehrgeiziger Bogenschütze sein großes Vorbild auf und fordert Tsetsuya zu einem Kräftemessen heraus. Tsetsuya nimmt die Herausforderung an, obgleich er nur noch über einen Bogen als Andenken verfügt und sich von seinem Herausforderer sogar einen Pfeil zur Verfügung stellen lassen muss. Der Fremde muss allerdings versprechen, dass er niemandem verraten wird, dass er Tsetsuya gefunden hat und in welchem Dorf er lebt. Der Fremde stellt sich als sehr guter Bogenschütze heraus, der nach eigenem Bekunden alle Lehren Tsetsuyas befolgt und perfektioniert hat. Die besondere Technik des japanischen Bogenschießens, die sich im Unterschied zu westlichen Formen durch das „dynamische“ Abschießen des Pfeiles auszeichnet, beherrscht der Fremde tadellos. Dennoch zeigt Tsetsuya dem ehrgeizigen Konkurrenten dessen Grenzen auf. Dieser muss erkennen, dass Vollkommenheit nicht nur die fehlerfreie Beherrschung der technischen Fähigkeiten voraussetzt, sondern auch eine gleichermaßen tiefe Verbindung zum Geist. Das japanische Bogenschießen ist, anders als seine europäische Variante, auch geprägt von meditativen Elementen, Disziplin, innere Ruhe und Konzentration. Tsetsuya hat diese Vollkommenheit erreicht. Es ist allerdings nicht der Fremde, an den Tetsuya letztlich sein Wissen weitergibt, sondern ein Junge seines Dorfes, der das Kräftemessen der beiden Bogenschützen eher durch Zufall mitbekommen hat. Auch er muss versprechen, dass er sowohl Tetsuyas Künste im Bogenschießen als auch dessen Aufenthaltsort niemandem weitererzählt. Der Meister weiht den Jungen sodann in die Geheimnisse des Bogenschießens ein. Er erklärt, wie man den Bogen und den Pfeil hält, wie man die Sehne spannt und wann der richtige Zeitpunkt des Abschusses ist. Dabei stellt sich schnell heraus, dass Tsetsuya mit dem Weg des Bogens nicht etwa dessen Flugbahn, sondern den Lebensweg eines jeden Einzelnen meint. Angesprochen werden die großen Themen des Lebens: Freundschaft, Solidarität, Ausdauer, Zielstrebigkeit, aber auch Flexibilität und der Mut zur Umkehr sowie Ruhe, Gelassenheit, Spiritualität und – last but not least – auch das Thema Tod. Coelho lässt seinen Hauptdarsteller leise und eindrücklich wunderbare Worte sagen zum Thema Respekt vor sich selbst und den Mitmenschen. Tsetsuya fordert den Jungen – und damit aber auch uns Leser – auf, seinen Intuitionen zu folgen und sich nicht um das zu kümmern, was andere sagen, sondern sich mit Menschen zu verbünden, die den Mut haben, eigene Wege zu gehen, gegen den Mainstream selbst auf die Gefahr hin zu scheitern. Menschen, die nicht zögern, ihre Richtung zu ändern, wenn sie vor einem unüberwindlichen Hindernis stehen oder wenn sie einen besseren Weg entdecken und dennoch ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. Um hier nur ein kleines Beispiel aus dem wunderbaren Schatz an Lebensweisheiten zu nennen, die das Buch enthält.
Ich will nicht ausschließen, dass diese Lebensweisheiten dem einen oder anderen meiner Leser etwas zu geballt und vielleicht zu offensichtlich daherkommen und die moralische „Keule“, die der Autor unzweifelhaft ausgepackt hat, vielleicht als zu vehement empfunden wird. Mir persönlich ging es nicht so. Ich habe mich mitreißen lassen von den weisen Einsichten Coelhos, die gerade in dem Zustand, in dem sich unsere Welt befindet, unbedingt wieder einmal ausgesprochen werden mussten. Coelho hat es auf wunderbar literarische Art getan und mich damit begeistert. Ich kann dieses Buch nur uneingeschränkt allen ans Herz legen und mit Sicherheit werden es einige derjenigen, die ich weihnachtlich beschenke, unter dem Christbaum finden.
Pia-Alexandra Kappus